"Auf jede Berührung folgt eine Antwort", sagt Liane Emmersberger, Bild: (c) Liane Emmersberger

Im Interview mit Kinästhetik Trainerin Liane Emmersberger: „Babys signalisieren von Geburt an über ihren Körper“

Liane Emmersberger ist selbstständige, zertifizierte Kinästhetik Trainerin. Früher hat sie als Fachkrankenschwester für Intensivpflege gearbeitet und war davon 15 Jahre in der außerklinischen Kinderintensivpflege tätig. Heute gibt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder Elterncoaching in diversen Bereichen, dabei ist ihr Herzensthema das Kinästhetik Infant Handling. Ein Interview mit der Powerfrau über Windelfrei und Kinästhetik.

Liane Emmersberger im Interview

Liebe Liane, welche Rolle spielt Windelfrei in deinem Leben?

„Mein erstes Kind wurde mit Wegwerfwindeln gewickelt und war mit 2,5 Jahren tagsüber ohne Windel. Zu dieser Zeit habe ich auch von Windelfrei erfahren und bei Freunden kennengelernt. Ich fand es sehr aufwändig und habe mir gesagt, dass ich das niemals machen werde, aber auf jeden Fall mit Stoff wickeln wollte. Dann kam meine Tochter auf die Welt und belehrte mich eines Besseren. Sie machte nämlich nur Stuhlgang bei geöffneter Windel. Das war dann der Beginn meiner Windelfreireise. Gleichzeitig habe ich Nicola Schmidts Windelfrei Blog entdeckt und gelesen. Nachdem ich erst nur für Stuhlgang abgehalten habe, kamen später Urin tagsüber dazu, dann nachts und zum Schluss auch unterwegs. Mein drittes Kind habe ich von Geburt an komplett abgehalten und sogar das Kindspech auffangen können. Zu diesem Zeitpunkt lernte ich Nicola Schmidt kennen, indem wir gemeinsam 2011 einen Windelfrei Workshop auf dem AFS Stillkongress gehalten haben. So kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Artgerecht-Projekt. Ich bildete zusammen mit Nicola Windelfrei Coaches als Co-Dozentin aus, später auch allein und ich habe selbst Windelfrei Workshops für Fachpersonal, wie Hebammen und Pflegepersonal, Institute wie Stoffwindelexperten und Stoffwindelakademie sowie für Eltern gegeben. Mittlerweile biete ich Elterncoaching in allen Bereichen sowie Kinästhetik Infant Handling an.“

Liane Emmersberger ist Kinästhetik Trainerin, Bild: (c) Liane Emmersberger
Liane Emmersberger ist Kinästhetik Trainerin, Bild: (c) Liane Emmersberger

Was ist eigentlich Kinästhetik bzw. Kinästhetik Infant Handling?

„In Kurzfassung bedeutet Kinästhetik Bewegungsempfindung. Ursprünglich für die Pflege konzipiert geht es in diesem Bereich um Ressourcenorientierte Positionierung und Mobilisation von Patienten in der Klinik, im häuslichen Bereich sowie in der Behindertenpflege. Ebenso wird es auf der Neugeborenenintensivstation eingesetzt, wo es auch sehr verbreitet ist. Kinästhetik Infant Handling ist achtsames Handling und eine Art Technik und Werkzeug, mit dem Säuglinge und Kleinkinder über gemeinsame, achtsame Berührungen und Bewegungen bewegt, gehoben und getragen werden sowie eine nonverbale gewaltfreie Kommunikationsform über den Körper des Kindes. Es greift im Bewegungsablauf den idealtypischen Aufrichtungsprozess eines Kindes auf und integriert und hemmt auf natürliche Art und Weise frühkindlicher Reflexe, die für die Geburt, für das Überleben des Babys in den ersten Lebensmonaten sowie für die Bewegungsentwicklung notwendig sind. Auf jede Berührung folgt eine Antwort!“

Was hat Windelfrei mit Kinästhetik Infant Handling zu tun?

„Eine ganze Menge. Babys signalisieren von Geburt an über ihren Körper. Nicht nur durch Weinen, sondern auch generell durch ihre Körperspannung und -signale. Überstreckt sich ein Baby und lässt sich z.B. beim Stillen kaum anlegen, kann es sein, dass es erst mal ausscheiden will. Gleichzeitig beruhigt das Saugen, Oxytocin wird ausgeschüttet und das Baby kann entspannen und seine Ausscheidungen loslassen.“

Warum ist Kinästhetik so wichtig bzw. welche Vorteile bietet es?

„Kinästhetik Infant Handling ist der erste und wichtigste Bindungsbaustein, neben dem Stillen, Tragen, Familienbett und Elimination Communication (Abhalten) und allen anderen pflegerischen Tätigkeiten und Aktivitäten mit dem Kind. Denn der erste Schritt zur Bewegung ist Berührung. Jede Berührung schüttet Oxytocin aus, das Bindungshormon schlechthin, und reduziert die Stresshormone Adrenalin und Cortisol. Und noch viel wichtiger: Mit einem achtsamen kinästhetischen Säuglingshandling können möglicherweise Lernschwierigkeiten, Bettnässen, Lese-Rechtschreibschwäche, motorische Störungen und muskuläre Dysbalancen präventiv vorgebeugt werden, da die frühkindlichen Reflexe in die natürlichen Bewegungsabläufe, im Sinne der natürlichen Bewegungsentwicklung, integriert werden. Kinder, die nach kinästhetischen Gesichtspunkten bewegt werden, sind in den Wachphasen zufriedener, aufmerksamer, mobiler und haben längere, entspanntere Schlafphasen. Deshalb ist Kinästhetik ein Konzept, eine bewegungsorientierte Methode, die die Bewegungsfähigkeit und die Körperwahrnehmung fördert und unterstützt. Durch bewegungsförderndes Handling kann einem gesunden wie auch dem gehandicapten Kind geholfen werden, sein Können weiterzuentwickeln und anzuwenden. Es wird ihm Sicherheit und Halt gegeben, indem es gelernte Erfahrungen weiter erleben und üben kann. Durch Berührung und Interaktion mit dem Kind wird dessen Wahrnehmung gefördert. Die Kinder werden aufmerksamer, reagieren bewusster, suchen Kontakt und finden sich in ihrer Umwelt besser zurecht. Gebe ich dem Kind beim Ablegen z.B. die Möglichkeit, sich mit den Füßen aktiv abzustützen, dann kann es sein Becken bewegen, die Bauchmuskulatur einsetzen. So kommt es zur aktiven Unterstützung durch das Kind und zur Aktivierung der Darmtätigkeit. Blähungen, Koliken sowie Probleme bei der Stuhlentleerung können somit entgegengewirkt werden. Auch aktives Drehen des Beckens unterstützt die Darmtätigkeit unserer Kinder. Viele Dreimonatskoliken können so entschieden verbessert werden.“

Auf was sollten wir aus kinästhetischer Sicht achten, wenn wir unser Baby abhalten?

„Als Allererstes darauf, wie ich das Baby aufnehme und welche Abhalteposition eingenommen wird. Ein neugeborenes Baby, welches noch keine Kopfkontrolle hat, empfehle ich in der Wiegehaltung abzuhalten, den Füßen Halt zu geben und lediglich ein Tuch zwischen die Beine zu legen oder einen Asiatopf zwischen die Beine zu klemmen und das Baby hier halbliegend abzuhalten. Hier liegt das Baby sehr viel sicherer und auch für die Eltern ist es entspannter zu sitzen, anstatt über dem Waschbecken in gebeugter Haltung zu stehen. Wenn doch über dem Waschbecken o.ä. abgehalten werden will, empfehle ich einen Hocker, damit ich als Erwachsener ein Bein hochstellen und damit bequemer und stabiler stehen kann, wenn ich das Baby in Wiegehaltung abhalte. Sobald das Kind mehr Muskelspannung und Kopfkontrolle hat, kann auch in der klassischen Abhalteposition abgehalten werden. Hier lasse ich das Baby auf seinen Sitzbeinhöckern auf meinen Unterarmen halbliegend sitzen, so dass die Wirbelsäule entlastet wird, das Gesäß durchhängt und der Oberkörper aufgerichtet ist. Auch hier sollte dem Baby Fußkontakt gegeben werden, damit es mehr Halt und Sicherheit erfährt. Das bedeutet, dass ich z.B. wieder einen Asiatopf zwischen meine Beine klemme und das Baby angelehnt an meinem Bauch über dem Topf abhalte oder wie z.B. im Bild. Das ist für Eltern wie auch für das Kind sehr viel angenehmer und unterstützender als die klassische Abhalteposition in den Kniekehlen hängend.“

Ein Baby wird in die klassische Abhalteposition gebracht, Bild: (c) Liane Emmersberger
Ein Baby wird in die klassische Abhalteposition gebracht, Bild: (c) Liane Emmersberger

Welche Vorteile hat Windelfrei auswirkend auf den Körper des Babys?

„Als Erwachsener bin ich sehr häufig mit meinem Baby in Interaktion, bewege es mehr und lerne so mein Baby zu lesen. Das Baby erfährt sehr viel mehr Interaktion und schult damit seine Körperwahrnehmung, baut aufgrund der vielen Bewegungen Muskelspannung und Muskelkraft auf und wird so zusätzlich in seiner Bewegungsentwicklung unterstützt.“

Was ist deiner Meinung nach der größte „Fehler“ beim Abhalten?

„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern ihr Kind noch in passive Abhaltepositionen bringen, obwohl es in seiner Bewegungsentwicklung schon sehr viel weiter ist. Ein Kind, welches schon sitzen kann, wehrt sich häufig in der klassischen Abhalteposition und möchte hier in die Selbstwirksamkeit gehen. Ein weiterer Punkt ist, Führung zu übernehmen und auch klare WC-Regeln einzuführen. Hier beobachte ich zunehmend, dass Eltern ihre Babys nackig lassen und diese überall hinpullern dürfen. Gerade in der Phase, in der Babys das Krabbeln lernen, sind sie mit der Bewegungsentwicklung beschäftigt und signalisieren nicht mehr eindeutig. Das ist anstrengend und verlangt seitens der Eltern sehr viel Aufmerksamkeit und Begleitung. Hier empfehle ich eher ein Backup wie Windeln und dieses häufig zu wechseln und das wiederum achtsam und in Positionen, die das Baby schon kann. Deswegen sollte ich es mir hier so einfach wie möglich mit dem Windelsystem und der Kleidung machen, so dass ich ggf. nur eine Einlage wechseln muss.“

Gibt es denn auch körperliche Gründe beim Kind, die gegen ein Abhalten sprechen?

„Nein, überhaupt nicht. Ich habe in meiner Arbeit als Fachkrankenschwester für Intensivpflege und Anästhesie in der außerklinischen Kinderintensivpflege quasi bei jedem mir anvertrauten Kind, Jugendlichen und Erwachsenen auf die Ausscheidungen geachtet und erkannt, wann sie mal mussten oder die Windel nass war. Ein Kind hat hier sogar nur Stuhlgang gemacht, wenn die Windel geöffnet war. Diese besonderen Kinder signalisieren eindeutig über ihren Körper wie über die Atmung, Herzfrequenz und indem sie auch nachts unruhig und wach geworden sind. Ich konnte sie zwar in keine Abhalteposition bringen, dafür aber eben sofort auf sie reagieren und für ihr Wohlbefinden sorgen, indem ich sofort die Windel gewechselt habe. Gerade wenn Menschen nicht sprechen können, kommunizieren sie eindeutig über ihre Körperanspannung und Körperreaktionen.“

Gibt es Windelfrei Equipment, das beim Abhalten besonders nützlich – oder im Gegenteil sogar schädlich ist?

„Schädlich sind lediglich zu dicke Stoffwindelpakete und zu enge Kleidung, allerdings nur in Bezug auf die Bewegungsentwicklung. Der Markt ist voll an Abhaltekleidung und -windeln und letztendlich darf hier jede Familie das für sie passende System finden. Ich habe lediglich einen Asiatopf, später verschiedene Sitztöpfchen, viele Einlagen, Wollhosen und Unterhosen benutzt. Wichtig war mir, dass ich diese leicht An- und Ausziehen konnte und sie die Beweglichkeit im Hüftgelenk und am Bauch nicht eingeschränkt haben.“

Was war dein persönlich größter Windelfrei AHA-Moment?

„Als ich erkannt habe, dass ich in der Pflege intuitiv über Ausscheidungen mit den mir anvertrauten Kindern und Jugendlichen kommuniziert habe. Denn Windelfrei heißt ja eigentlich Elimination Communication, also Ausscheidungskommunikation.“

"Auf jede Berührung folgt eine Antwort", sagt Liane Emmersberger, Bild: (c) Liane Emmersberger
„Auf jede Berührung folgt eine Antwort“, sagt Liane Emmersberger, Bild: (c) Liane Emmersberger

Was hat sich in den letzten Jahren hinsichtlich der Sichtbarkeit von Windelfrei getan? Gibt es wieder mehr Eltern, die abhalten?

„Ja, definitiv. War ich 2006 noch ein Exot, ist Windelfrei mittlerweile sehr bekannt und wird auch von vielen Eltern praktiziert. Social media, wie Instagram, Facebook und Blogs sowie die Bücher von Nicola haben hier sehr dazu beigetragen.“

Wie stehst du zu Produkten aus der Babyindustrie, wie zu Federwiegen, Lauflernwagen, Babystühlen usw.?

„Das ist für mich ein heikles Thema. Die Eltern verlieren ihre Intuition und die Industrie vermarktet ihre vielen Hilfsmittel sehr gut. Einige Hilfsmittel sind sinnvoll und nützlich, wie z.B. ein Hochstuhl, andere wie Federwiege, Lauflernwägen, Wippen etc. nicht wirklich. Viele Eltern greifen darauf zurück, weil die familiäre Unterstützung fehlt oder weil sie es nicht besser wissen. Hier empfehle ich zum einen das Tragen im Tragetuch oder in der Tragehilfe und zum anderen genauer hinzusehen, wann und wie dosiert ich die ganzen Hilfsmittel anwende und einsetze und ob das Baby zufrieden ist oder ob es nicht auch anders gehen könnte.“

Liane, was möchtest du abschließend noch sagen?

„Ich möchte alle Eltern oder generell alle Menschen einladen, sich bewusst zu machen, wie sie ihr Baby, ihre Partner oder zu pflegenden Menschen im Alltag berühren und sich selbst zu beobachten, wie sie sich selbst und das Kind oder Patienten bewegen. Denn unsere Berührungen sind die erste Körpererfahrung eines Babys und prägen dessen Körperbild und Körperwahrnehmung ab dessen ersten Atemzug. Und geht in die Selbstfürsorge, holt euch Hilfe, bildet euren eigenen Clan und unterstützt euch gegenseitig. Entschleunigt euren Alltag, streicht das Wort schnell aus eurem Wortschatz und geht in die Achtsamkeit mit euch selbst und euren Kindern, vor allem, wenn die Babys noch sehr hilflos und auf Hilfe angewiesen sind. Kinder werden so schnell groß und selbstständig und manch einer wünscht sich diese Zeit später zurück.“

Mehr Infos zu Liane Emmersberger und der Welt der Kinästhetik findest du auch auf ihrer Website und auf YouTube, wie z.B. eine Playlist zum Abhalten und Wickeln.

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